Ein Etwas und ein Gast
Eine Erzählung.
Es kommt vor, dass wir Jemanden auf Etwas aufmerksam machen müssen, was uns unangenehm, von dem wir aber wissen, dass es richtig ist. Wenn wir uns dann überwinden dieses Etwas auszusprechen, gibt es drei Möglichkeiten, wie unser Gegenüber damit umgeht. Er schenkt uns ein verständnisvolles Lächeln mit einem begleitenden Nicken. Er beginnt wütend zu diskutieren und beleidigt uns mit Etwas, was nichts im Entferntesten mit unserem Etwas zu tun hat.
Oder aber er dreht sich ohne ein Wort ganz einfach um und lässt uns mit dem nagenden Gefühl stehen, einen Menschen zutiefst verletzt zu haben, sodass wir vergessen, dass wir unser Etwas doch eigentlich als richtiges Etwas empfunden haben. Wenn es uns dann wieder einfällt, erzählen wir jedem davon, der uns über den Weg läuft, um unser Gewissen zu beruhigen, indem wir immer wieder nach Worten haschen, wie: „ Ja, da hast du alles richtig gemacht – du warst doch im Recht.“
Mein Nachbar gehörte zur dritten Variante. Er ließ mich stehen und sprach bis zu seinem Tode kein Wort mehr mit mir. Er sprach nicht mit mir, wenn wir uns im Treppenhaus begegneten. Er sprach nicht mit mir, wenn wir uns vor dem Haus begegneten. Er sprach nicht mit mir, wenn wir uns im Supermarkt begegneten. Seine dröhnend laute Stimme hatte die Sprache verloren.
Begegnet waren wir uns das erste Mal, einige Tage nachdem ich eingezogen war, vor meiner Wohnungstür, als ich gerade fegte. Seine dröhnende Stimme ging voraus und schüttelte mir den Kopf, bevor er mir die Hand schüttelte. Ein leichter Schnapsgeruch, eine gerötete Knollennase, kleine lachende Augen. Ich hatte kein gutes Gefühl. Damals lebte seine Frau noch. Groß, stark geschminkt, ein liebevoller Blick. Ich hatte ein gutes Gefühl.
Sein erstes Klingeln an meiner Tür ließ nicht lange auf sich warten und das Etwas schaute schon schüchtern um die Ecke. Das Klingeln wurde zu einem regelmäßigen Gast, den ich nicht ignorieren konnte, weil meine kleine hellhörige Wohnung es mir unmöglich machte, eine Abwesenheit vorzutäuschen. Das Etwas gesellte sich jedes Mal dazu und versteckte sich hinter meinem Rücken.
Manchmal sprach er zwei Sätze über die Wetterlage und machte sich auf den Weg. Einige Male sagte er bloß: „Geh doch mal raus, lernen kannst du, wenn das Wetter schlecht ist.“ Und andere Male, wünschte er mir bloß einen Guten Morgen. Dann starb eines Tages seine Frau und das Klingeln wurde von einem gewohnten Gast zu einem täglichen Gast, der sich in der Luft meiner Wohnung so breit machte, dass meine Wohnung zu schrumpfen schien. Er versteckte seine Traurigkeit hinter seinem Rücken und ich versteckte das Etwas hinter meinem Rücken.
Es traute sich hervor, nachdem der tägliche Gast am neunten Tag in Folge um 8 Uhr morgens meine Wohnung weiter schrumpfen ließ. Nachdem das Etwas raus war und ihn bat, meine Ruhe und Privatsphäre zu respektieren und den Gast nicht mehr täglich auf Besuch zu schicken, kam auch seine Traurigkeit hinter seinem Rücken hervor und er ließ mich stehen. Nachdem er mich durch seine fehlende Sprache zum Feind deklariert hatte, beschäftigte mich das nagende Gefühl und ich fragte mich, ob ich das Etwas nicht sensibel genug formuliert hatte. Ich fragte mich, wie ein Mensch, den ich nicht einmal leiden konnte, mir das Gefühl vermitteln konnte, eine Verantwortung ihm gegenüber zu haben. Ich fragte mich, wann man eine Verletzung seiner persönlichen Grenzen hinten anstellen sollte. Ich stellte mir diese Fragen immernoch, nachdem mein Nachbar bereits verstorben war. Doch meine Wohnung hatte wieder ihre ursprüngliche Größe und das Etwas strich mir beruhigend über den Kopf während es mir zulächelte.
Einige Gedanken zum Thema „Persönliche Grenzen.“