Ein unbesiegbares Ungeheuer

Einige Gedanken.

Als ich fünf Jahre alt war, sollte in meinem Kindergarten „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ als Theaterstück aufgeführt werden. Schneewittchen hatte ich nie besonders gemocht. Die Prinzessinnen aus den Märchen waren mir immer zu brav, zu tugendhaft, zu gerade. Ich mochte die schiefen Figuren. Die, die vom Weg abkamen, die frech waren und einen überraschten. Rumpelstilzchen, der böse Wolf, die Hexe im Lebkuchenhaus. Aber als einziges Kind im Kindergarten mit schwarzen langen Haaren, heller Haut und eher schüchternem Charakter wurde ich automatisch zum Schneewittchen. Die Rolle höflich abzulehnen traute ich mich nicht. Lieber wäre ich ein Baum gewesen. Teilhaben, aber aus dem Hintergrund.

Auch in meiner Arbeit wäre ich gerne ein Baum. Aber die Selbstständigkeit ist ein Stück, in dem man unumgänglich die Hauptrolle übernehmen und sich dem Ungeheuer stellen muss. Das Ungeheuer ist nicht das Publikum, sondern die Ungewissheit. Die Ungewissheit, ob die eigene Arbeit den Betrachtern gefallen wird. Die Ungewissheit, ob man verstanden wird. Die Ungewissheit, ob man von dieser Arbeit leben kann. Die Ungewissheit, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat. Und hilflos müssen wir dann feststellen, dass wir gegen ein Ungeheuer kämpfen, dass unbesiegbar ist, denn die Ungewissheit ist ein Teil der Arbeit.

In den Märchen ist das Gute immer gut und das Böse immer böse. Schneewittchen wird nicht zugetraut, dass sie ihrer Stiefmutter mal ordentlich den Kopf wäscht und der Stiefmutter, dem alten Drachen, wird nicht zugetraut, dass sie in ihrer Eitelkeit einen Schritt zurücktritt und die Bühne mit ihrer Stieftochter teilt. Aber wir wissen, dass das Gute und das Böse Märchen bleiben. Wie langweilig es doch wäre, wenn wir die Ungeheuer immer bezwingen müssten, anstatt sie zur Abwechslung zum Kaffee einzuladen, um sie besser kennenzulernen.

„Künstler zu werden besteht zum großen Teil darin, dich selbst anzunehmen, was deinem Werk einen persönlichen Charakter verleiht, und deiner eigenen Stimme zu folgen, die dein Werk einmalig macht.“ (Kunst & Angst von David Bayles & Ted Orland)